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Fri 04 November 2016

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2 für 1

Subventionieren Fahrgäste der 2. Klasse bei der Deutschen Bahn die 1. Klasse?

Eine besser aussehende Version des Artikels gibt es als PDF. (LaTeX-Quellcode → github )

Eine kürzlich veröffentlichte These lautet, dass bei der Deutschen Bahn die geringe Auslastung der 1. Klasse auf eine Subvention der 1. Klasse durch Fahrgäste der 2. Klasse hindeute. In diesem Artikel wird eine Ungleichung abgeleitet, die Schranken zur Bestätigung bzw. Falsifizierung der Hypothese für jede Zugfahrt angeben kann. Anhand öffentlich zugänglicher Daten wird beispielhaft für die Strecke Berlin-München festgestellt: Sofern die Betriebskosten pro Sitz in der 1. Klasse mehr als 16% über den Betriebskosten pro Sitz der 2. Klasse liegen, und sofern die auf die 1. Klasse umlegbaren Kosten einer Zugfahrt größer als 32% der auf die 2. Klasse umlegbaren Kosten einer Zugfahrt sind, lässt sich die Hypothese der Subvention für die 1. Klasse aufrechterhalten. Sollten diese Schranken unterschritten werden, lässt sich die Hypothese nicht aufrechterhalten.

1. Klasse im ICE 3 (Bild: wikipedia) 2. Klasse im ICE 3 (Bild: wikipedia)
1. Klasse im ICE3 2. Klasse im ICE3
Fotos: Henry Mühlpfordt - CC BY-SA 3.0, Link

1 Einleitung

Im Artikel ”Deutsche Bahn: Finanziert die zweite Klasse die teure erste Klasse mit?” spekuliert Jost Müller-Neuhof, dass die geringe Auslastung der 1. Klasse auf eine Subvention der 1. Klasse durch Fahrgäste der 2. Klasse hindeute. In diesem Artikel werden anhand dieser Annahme und öffentlich zugänglicher Informationen Bedingungen abgeleitet, unter denen die Subventionshypothese nicht verworfen werden kann. Sollten diese Bedingungen nicht erfüllt sein, lässt sich die Subventionshypothese nicht aufrechterhalten.

2 Mathematische Modellierung

2.1 Variablen

i - Index für die Klasse, i 1, 2

Ui - Umsatz einer Zugfahrt in der jeweiligen Klasse

Ki - Summe der einer Klasse i zurechenbaren Kosten, wobei i=12K i die Gesamtkosten einer Zugfahrt sind.

P̄i - Mittlerer Fahrkartenpreis in der jeweiligen Klasse

Ni - Anzahl der verkauften Fahrkarten

Si - Sitze je Klasse (1,2) oder insgesamt (T)

μi - Auslastung in der jeweiligen Klasse

δK - Zuschlagsfaktor Kosten 1. Klasse

δP - Zuschlagsfaktor Fahrkartenpreis 1. Klasse

Wir gehen davon aus, dass die Zugfahrten insgesamt nicht defizitär sind. Das bedeutet, dass der erzielte Umsatz in beiden Klassen die Kosten einer Zugfahrt übersteigt.

Es wird angenommen, dass sich die einer Zugfahrt zurechenbaren Kosten auf die 1. und 2. Klasse umlegen lassen, z.B. durch Gemeinkostenzuschläge für Fixkosten. Quersubventionierung durch Verkäufe im Bordrestaurant u.ä. werden nicht betrachtet.

U1 + U2 K1 + K2 (1)

Wir nehmen an, dass eine Quersubvention zwischen den Klassen stattfindet: Die 1. Klasse subventioniert die 2. Klasse. Die 2. Klasse arbeitet wirtschaftlich.

U1 < K1 (2)

U2 K2 (3)

Die Motivation für diese Annahme ist mathematischer Natur, da durch die ungleichen Relationszeichen in den Ungleichungen (2) und (3) später eine Überführung beider Ungleichungen in eine Ungleichung (13) möglich wird. Wären die Relationszeichen gleich, wäre die Umformung nicht zulässig.

Daraus lassen sich später Bedingungen ableiten, unter denen diese Subventionierung gilt.

Der Umsatz setzt sich aus dem mittleren Fahrkartenpreis P̄ und der Anzahl der verkauften Fahrkarten N zusammen.

U1 = P̄1 N1 (4)

U2 = P̄2 N2 (5)

Die Anzahl der verkauften Fahrkarten steht im Verhältnis zur Auslastung μi und der Kapazität Si, also der Anzahl verfügbarer Sitze in einem Zug bzw. für eine Klasse i.

N1 = μ1 S1 (6)

N2 = μ2 S2 (7)

Die Gesamtzahl an Sitzen in einem Zug ST = S1 + S2 ist bekannt. Daher ergibt sich:

S1 = ST - S2 (8)

und wir erhalten

N1 = μ1 (ST - S2) (9)

Das Verhältnis der Fahrkartenpreise in 1. und 2. Klasse δP = P̄1P̄2 mit δP > 1 wird als Hilfsgröße eingeführt. Es kann später empirisch ermittelt werden. Nach P̄1 umgestellt ergibt sich:

P̄1 = δP P̄2 (10)

Da in der ersten Klasse ein aufwändigeres Angebot geleistet wird (z.B. durch kostenlose Tageszeitungen, höhere Beinfreiheit, Getränke am Platz usw.), gibt es ein Kostenverhältnis δK = K1K2 mit δK > 1. Damit erhalten wir zwei Ungleichungen mit zwei Unbekannten P̄2 und K2.

Wir können also Ungleichung (2) umformen zu:

δP P̄2 μ1 (ST - S2) < δK K2 (11)

und für die 2. Klasse ergibt Ungleichung (3):

P̄2 μ2 S2 K2 (12)

Durch die Relationsbeziehungen und < lässt sich K2 eliminieren:

P̄2 μ2 S2 δP μ1 (ST - S2) δK P̄2 (13)

Da P̄2 > 0 erhalten wir nach Division durch P̄2:

μ2 S2 δP μ1 (ST - S2) δK (14)

δK μ2 S2 δP μ1 (ST - S2) (15)

Schließlich ergibt sich das Grundmodell, das im nächsten Abschnitt zur Ermittlung von Schranken verwendet wird:

δK δP μ1 μ2 ST S2 - 1 (16)

3 Ermittlung von Schranken

3.1 Daten

Von den Variablen in Ungleichung (16) sind folgende bekannt:

S1 - 98 in einem ICE 3

S2 - 356 in einem ICE 3

ST - 454 in einem ICE 3

δP - Wenn man das Verhältnis der Normalpreise zu Grunde legt ergibt sich z.B. für die Strecke Berlin-München ein Verhältnis von 237142

μ1 - 0.39

μ2 - 0.56

3.2 Kosten pro Klasse

Die einzige Unbekannte ist das Kostenverhältnis δK, da die Bahn dazu aus Wettbewerbsgründen keine Angaben machen will. Um einen Wert dafür zu ermitteln, kann die Ungleichung (16) nach δK umgestellt werden.

δK μ1 μ2 ST S2 - 1 δP (17)

δK 0.39 0.56 454 356 - 1 237 142 (18)

δK* 64701 202208 = 0.31997 (19)

Das bedeutet, dass sofern K1 0.27 K2, also die Summe der Kosten, die der 1. Klasse bei einer Zugfahrt zugerechnet werden können, größer als 27% der Summe der Kosten ist, die bei einer Zugfahrt der zweiten Klasse zugerechnet werden können, die Annahme, dass die Fahrgäste der zweiten Klasse die Fahrgäste der 1. Klasse subventionieren, nicht zu einem Widerspruch führt.

Um diese Größenangabe einschätzen zu können, kann als Vergleichswert der Anteil der Kosten berechnet werden, der anfallen würde, wenn die Kosten pro Sitz in der ersten und zweiten Klasse gleich wären: Das Verhältnis S1ST beträgt in einem ICE 3 98454 = 21.59%. Würden die Kosten pro Sitz in der 1. und Z. Klasse gleich sein, würde gelten K1 = 98454 (K1 + K2). Dies lässt sich umformen zu (45498 - 1) K1 = K2 und schließlich K1 K2 = δK̄ 98 356 = 0.27528. Dies entspricht natürlich dem Verhältnis S1S2.

Die Differenz zwischen δK* und δK̄ beträgt 0.044689. Dieser Unterschied erscheint relativ gering. Es liegt die Vermutung nahe, dass damit kein Widerspruch zur Annahme einer Subvention der ersten Klasse durch die zweite Klasse erzeugt werden kann.

3.3 Kosten pro Sitz

Die Gesamtkosten in den beiden Klassen lassen sich linearisieren, wobei Ci den Kostensatz pro Sitz angibt.

δK = K1 K2 = S1 C1 S2 C2 (20)

Mit der bekannten Beziehung zwischen Sitzen je Klasse ST = S1 + S2 ergibt sich dann:

δK = (ST - S2) C1 S2 C2 = ST S2 - 1 C1 C2 (21)

Wenn dies in die linke Seite von Ungleichung (17) eingesetzt wird, ergibt sich:

ST S2 - 1 C1 C2 μ1 μ2 ST S2 - 1 δP (22)

C1 C2 μ1 μ2 δP (23)

Und nach Einsetzen der Zahlen aus 3.1:

C1 C2 1.16 (24)

Sofern die Betriebskosten je Sitz in der 1. Klasse um mehr als 16% über denen der 2. Klasse liegen, liegt kein Widerspruch zur These der Subventionierung vor.

3.4 Qualitative Betrachtung

Außerdem ist mit δP = P̄1P̄2 und Ungleichung (23) eine qualitative Betrachtung möglich:

C1 C2 >1 P̄1 P̄2 >1 μ1 μ2 <1 (25)

Die Quotienten aus Betriebskosten pro Sitz und durchschnittlichem Fahrkarten Preis sind jeweils größer als eins, während das Verhältnis der Auslastungen kleiner als 1 ist.

Wenn die Auslastung der zweiten Klasse μ2 sehr stark sinkt, ist anzunehmen, dass die Ungleichung nicht mehr erfüllt ist, und damit die These der Subventionierung nicht mehr aufrecht erhalten kann. Dies entspricht dem realen Umstand, dass bei einem Einbruch der Fahrgastzahlen in der zweiten Klasse keine Subvention der ersten Klasse mehr möglich ist.

Analog ist die These der Subvention nicht mehr haltbar, wenn die Auslastung der ersten Klasse μ1 stark steigt. Dies entspricht dem realen Umstand, dass bei einer hohen Auslastung der höherpreisigen ersten Klasse keine Subvention mehr nötig ist, da die Annahme des Defizits in Ungleichung (2) nicht mehr erfüllt ist.

3.4.1 Fahrpreisgestaltung

Es lassen sich noch Überlegungen zum sich aus dem Verhältnis von Betriebskosten pro Sitz Ci und Fahrkartenpreis P̄i anstellen. Sollte der durchschnittliche Preis aller verkauften Fahrkarten in der 1. Klasse P̄1 unter den Betriebskosten pro Sitz liegen, ist offensichtlich von einer Subventionierung auszugehen, sofern die Zugfahrt insgesamt profitabel ist: Da für die rechte Seite von Ungleichung (26) μ1μ2 < 1 gilt, ist die Ungleichung erfüllt, sofern die 1. Klasse defizitär ist, also C1 > P̄1 und die 2. Klasse mit Gewinn arbeitet, also C2 > P̄2. Dann ist der Zähler der linken Seite größer eins und der Nenner kleiner eins, so dass die linke Seite von Ungleichung (26) größer eins und die rechte Seite kleiner eins ist. In diesem Fall ist Ungleichung (26) in jedem Fall erfüllt und es lässt sich für diese Ungleichung kein Widerspruch konstruieren.

C1 P̄1 > 1 bei Defizit C2 P̄2 <1 > 1 bei Defizit μ1 μ2 <1 (26)

4 Ergebnis

Aus dem oben genannten erfolgt, dass

  • sofern die Betriebskosten pro Sitz in der 1. Klasse mehr als 16% über den Betriebskosten pro Sitz der 2. Klasse liegen,
  • sofern die auf die 1. Klasse umlegbaren Kosten einer Zugfahrt größer als 31% der auf die 2. Klasse umlegbaren Kosten einer Zugfahrt sind

die Aussage, dass die Fahrgäste der zweiten Klasse die Fahrgäste der 1. Klasse subventionieren, nicht zu einem Widerspruch führt.

Wie zulässig diese Bedingungen sind, kann eine differenzierte, auf Realdaten basierende, quantitative Betrachtung der Kostenseite zeigen.

4.1 Einschränkungen und Ausblick

Es sind viele Erweiterungen des vorgestellten Ansatzes möglich. Zwei seien hier angeführt.

4.1.1 Mehr Fahrten, mehr Daten

Denkbar ist eine differenziertere Abbildung der Kostenstruktur für Zugfahrten, die Fixkosten und variable Kosten unterscheidet.

4.1.2 Schätzer für das Verhältnis der Fahrkartenpreise

Um mit dem vorgestellten Modell auf numerischem Wege zu einer verlässlicheren Aussage bezüglich der Schranken zu kommen, ist eine Betrachtung weiterer Strecken sinnvoll. Für die Abschätzung des Verhältnisses δP ist zudem zu prüfen, ob das Verhältnis der Normalpreise wirklich eine gute Näherung darstellt. Denkbar ist, dass in der 2. Klasse tendenziell mehr Sparpreise gekauft werden als in der 1. Damit würde man das Verhältnis mit der Normalpreisnäherung unterschätzen. Dies bedeutet, dass δP real größer ist und laut Ungleichung (16) die untere Schranke damit größer wird. Wenn die untere Schranke für das Verhältnis der Kosten steigt, gibt es weniger Fälle, in denen ein solches Verhältnis auch beobachtet werden kann und die Subventionshypothese aufrecht erhalten kann.

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